Libanon – Ein Land als Geisel

Es ist Ende Mai, der letzte Freitag des Ramadan. Im Süden Beiruts, der Hauptstadt des Libanon, strömen am Abend tausende Schiiten zusammen. Wie jedes Jahr zelebriert die Hisbollah, die schiitische „Partei Gottes“ den Jerusalem-Tag. Irans ehemaliger Ayatollah Chomeini rief 1979 den Tag für den Kampf aller Muslime gegen Israel ins Leben.

Ein Tag des Hasses und der Rache, den Hassan Nasrallah, der Generalsekretär der Hisbollah, zu einer aggressiven Videobotschaft nutzt. Schon lange kann er sich nicht mehr seinen Anhängern präsentieren, zu groß ist die Zahl seiner Feinde. So spricht er von einer Videoleinwand zu den Menschen, die sich in der Wärme des Abends versammelt haben.

„Wir haben im Libanon Präzisionsraketen in ausreichender Zahl, um die gesamte Region zu verändern!“ – ruft Hassan Nasrallah, der Generalsekretär der Hisbollah, und die Menge jubelt: „Nasrallah, wir folgen dir!“

Nasrallah droht mit dem Waffenarsenal seiner Miliz, nicht nur Israel sondern auch den USA. Seitdem der Krieg in Syrien entschieden ist, in dem auch Hisbollah-Milizionäre das Regime des Diktators Bashar al Assad an der Macht gehalten haben, ist der Einfluss der Hisbollah in der Region noch gestiegen.

Im Libanon wird keine wesentliche politische Entscheidung mehr ohne das Einverständnis der „Partei Gottes“ getroffen. In dem multireligiösen Staat sind die politischen Kräfteverhältnisse seit dem Ende des Bürgerkriegs 1990 sorgfältig geregelt: Die wachsende Macht der Hisbollah bringt diese Balance ins Wanken.

Sie stellt unter dem sunnitischen Ministerpräsident Saad Hariri zwei Minister. Hariri ist vom Wohlwollen Nasrallahs abhängig. Nicht zuletzt, weil die Miliz der Hisbollah wesentlich stärker als die libanesische Armee ist. Sie verfügt – so unabhängige Schätzungen – über mindestens 25 000 Kämpfer und  120 000 Raketen.

Israel sieht in der Hisbollah den verlängerten Arm seines Hauptfeindes Iran – direkt an seiner nördlichen Grenze. Trotz des Verbots durch eine UN-Resolution bunkert die Hisbollah im Südlibanon Waffen. Auch die Überwachung durch die UNIFIL–Truppen konnte nicht verhindern, dass die Hisbollah in den vergangenen Jahren mehrere Tunnel auf israelisches Gebiet gegraben hat, die im Winter 2018/19 entdeckt wurden.

Israel und die Hisbollah standen sich schon mehrfach in Waffengängen gegenüber, zuletzt 2006. Der nächste Krieg – prognostizieren Experten – würde den Libanon dem Erdboden gleichmachen und auch in Israel wesentlich drastischere Schäden  bewirken als alle anderen Kriege zuvor. Dieses Szenario des Schreckens bewirkt bisher, dass eine Eskalation der Gewalt vermieden werden konnte. Aber die zunehmenden Spannungen zwischen den USA und Iran erhöhen die Konfliktgefahr.

Ein ARTE-Team um Autor Michael Richter hat in den letzten Monaten die explosive Lage im Libanon erkundet. Der Film zeigt, dass die Hisbollah ihre politische und militärische Stellung in den letzten Jahren geschickt ausgebaut hat und inzwischen ein Staat im Staat ist. Aber es regt sich auch Widerstand. Zivilgesellschaftliche Kräfte versuchen die alten Konfliktlinien zwischen den Konfessionen zu überwinden und mit demokratischen Mitteln andere Wege zu gehen.

Autor: Michael Richter
Redaktion: Kathrin Bronnert
Produzentin: Nadja Frenz / Sandra Maischberger
Produktion: VINCENT PRODUCTIONS für NDR / ARTE

2019-08-22T18:02:55+02:00